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Von einem Flüchtling, dem es gelungen ist, die holländische Grenze zu überschreiten, erhalten wir den folgenden Bericht.

Ich war in der Nacht vom 9. auf den 10. November in einem jüdischen Gemeindegebäude, um hier mit dem Verwalter zusammen Wache zu halten. Bereits am Mittwoch hatten wir die ersten Berichte über Zerstörungen jüdischer Wohnungen usw. erhalten. Das war in der Nacht von Dienstag auf Mittwoch in Dessau, Bebra und wahrscheinlich noch an einigen anderen Plätzen geschehen. Aus Bebra hörten wir z.B. von persönlich betroffenen Augenzeugen, dass die SA in der Nacht in das Haus eingedrungen sei und alles vollkommen zerstört habe. Die Bewohner hatten sich in die zweite Etage geflüchtet. Nach geschehener Arbeit hiefl es: „Licht anlassen, alles antreten, Abmarsch!” Die Zerstörung war so vollkommen, dass unter anderem von einem Auto, welches in der Garage stand, auch nicht eine Schraube mehr zu verwenden war.

Am Mittwoch (9. November) wurde ein polnischer Staatsangehöriger, Inhaber eines kleinen Ladens, von arischen Bekannten gewarnt, dass am Abend gegen 1/2 11 „etwas” geschehen solle. Da die Warnung sehr unsicher war und wir nicht wussten, aus welcher Quelle sie stammte, auch nicht, was passieren sollte, wurde abends auf einer Besprechung zwischen Rabbiner, Mitgliedern des Gemeindevorstandes und des CV beschlossen, zunächst abzuwarten. Es war unmöglich, die Nachricht weiterzugeben, denn derartige Warnungen waren schon häufiger gekommen, und bei dem übernervösen Zustand unserer Menschen wäre es höchstens zu einer vollkommenen Panik gekommen, ohne dass dadurch tatsächlich etwas geholfen worden wäre.

Ich habe dann mit dem Verwalter zusammen zunächst bis 3 Uhr in dem betreffenden Hause Wache gehalten. Anwesend waren außerdem noch seine Frau und ein jüdisches Mädel, das im Wirtschaftsbetrieb tätig war. Es war alles ruhig, und die Straßen waren leer. Gegen 2 Uhr kam ein junger Mann zum Haus gelaufen, der, als er es ruhig im Dunkeln daliegen sah, einen Augenblick zögerte, um dann wieder wegzugehen. Ich weiß inzwischen, dass um diese Zeit die Synagoge bereits angesteckt wurde. Dorthin ist man gegen gekommen, ziemlich unmittelbar nach der Beendigung der SS-Vereidigung, die um 12 Uhr nachts begonnen hatte. Die Bewohner (Rabbiner und Schammes mit Familien) wurden herausgetrieben, ohne Möglichkeit, ihr Eigentum mitzunehmen. Gleichzeitig wurde in der bekannten Weise mit Benzin oder Petroleum Feuer gelegt. Die Haupttäter müssen dieselben vier bis sechs SS-Leute gewesen sein, die nachher auch zu uns kamen. Verhaftungen erfolgten nicht.

Gegen 3 Uhr beschlossen wir, die Wache für diese Nacht einzustellen, da bis dahin alles ruhig geblieben war und wir nicht vermuteten, dass zu so später respektive früher Stunde „die Volkswut noch überkochen sollte”. Wir hatten uns gerade ausgezogen, und ich wollte mich gerade hinlegen, als ich irgendein Geräusch hörte, das ich nicht mehr genau bestimmen kann. Ich ging sicherheitshalber noch einmal zu unserem Beobachtungsplatz, von dem wir die Straße übersehen konnten, zurück. Als ich den Raum betrat, hörte ich sofort den Lärm eines Motorradmotors. Ich lief ans Fenster und sah einen SA-Mann auf einem Motorrad sitzen, Während gerade ein anderer aus dem gegenüberliegenden Haus kam, sich auf den Soziussitz setzte und dem Fahrer eine Adresse in der Nachbarschaft angab. Da beide Leute die Dienstuniform mit heruntergelassenem Sturmriemen trugen und in dem betreffenden Hause Licht angegangen war, lag die Vermutung nahe, dass die SA alarmiert wurde. Es war 1/4  4. Nachdem ich meinen Freund geweckt hatte, haben wir uns wieder angezogen, und er hat sich ans Fenster gesetzt, um zu beobachten, was weiter geschehen würde. Es kam tatsächlich kurze Zeit später ein SA-Mann aus dem Haus. Währenddessen war ich auf die Straße gegangen, um zu sehen, ob ich feststellen könnte, was vor sich ging oder gehen sollte. Ich konnte tatsächlich bemerken, dass von allen Seiten SA-Leute nach einem Sammelplatz eilten. Als ich dort entlangging, sah ich einen unteren SA-Führer. Den größten Teil der ankommenden Männer schickte er sofort weiter, um die noch abwesenden zur Eile anzutreiben oder zu holen. Bei ihm stand ein Zivilist, der sich drüber beschwerte, dass es so lange dauere. Es wurde ihm entgegnet, dass man selbst (anscheinend auf dem Sturmbüro) erst gegen 3 Uhr benachrichtigt worden sei. Ich vermute, dass dieser Zivilist ein Mitglied der Geheimen Staatspolizei war, der die Listen der jüdischen Wohnungen und Geschäfte hatte.

Ich kehrte dann auf meinen Posten zurück, und wir beschlossen, weiter abzuwarten, weil wir ja immer noch nicht wissen konnten, was sich ereignen würde, und infolgedessen auch noch gar keine Gegenmaßregeln treffen konnten. Es war alles ruhig und die Straßen fast vollkommen menschenleer. Die SA wurde regelrecht zu dem besonderen Zweck aus den Betten geholt. Gegen 20 Minuten vor 5 Uhr kam ein älterer Mann in ziemlich abgerissener Kleidung, besah sich das Haus von allen Seiten und schien einigermaßen verwundert, dass da alles so still und ruhig war. Er ging dann wieder weg. Es scheint mir, dass er in der Stadt die Zerstörung der Geschäfte und den Brand der Synagoge, die um diese Zeit bereits in vollem Gange waren, gesehen hatte und nun auch mal bei uns „zusehen” wollte.

Um 5 Minuten vor 5 Uhr fuhr ein kleiner Wagen vor, aus dem vier SS-Leute in Uniform sprangen. Ich habe an einem die Abzeichen eines Obersturmbannführers (vier Sterne, ein Streifen) erkannt, und dieser gab auch im weiteren Verlauf die Befehle. Wir sind dann in die Wohnung gelaufen, wo der Verwalter seine Frau und das Mädel weckte.

Es wurde kurz geschellt und an die Tür geklopft. Gleichzeitig wurde bereits begonnen, die Scheiben von außen einzuschlagen. Da ich nichts mehr helfen konnte, während der Verwalter noch auf seine Frau warten musste, nahm ich Mantel und Hut und lief durch den großen Saal zu einem auf der Rückseite liegenden Notausgang, wo ich über die Mauer kletterte. Ich lief nun die Straße herauf und ging von einer anderen Richtung her ganz langsam wieder zurück, als ob ich von oder zur Arbeit ginge. Man war noch immer damit beschäftigt, Scheiben einzuschlagen. Einige SS-Leute waren bereits hereingeklettert und zerschlugen gerade in der Küche das zum Spülen aufgestapelte Geschirr sowie Stühle, Tische und die sonstige Einrichtung. Ich lief zur Telefonzelle, um das Überfallkommando zu benachrichtigen, konnte es aber nicht erreichen, da ich keinen Groschen bei mir hatte. Als ich zurückkam, war man gerade dabei, in den oberen Stockwerken alles zu vernichten. Die Fensterscheiben wurden mit den Rahmen herausgeschlagen. Dann habe ich den Gemeindevorstand benachrichtigt und danach von einer anderen Telefonzelle aus nochmals das Überfallkommando angerufen. Es fiel mir auf, dass ich es nicht direkt bekam, sondern von der Telefonzentrale des Polizeipräsidiums erst verbunden werden musste.

Das ist ungewöhnlich. Ich lief dann zu einer jüdischen Krankenschwester. Unterwegs traf ich einen Bekannten in seinem Wagen, den ich für den weiteren Verlauf der Ereignisse requirierte. Über die Geschehnisse an der Synagoge und in den Geschäften hatte ich in der Zwischenzeit bereits durch Passanten gehört. Mit der Schwester in Tracht kehrte ich zurück. Sie sollte sich über das Schicksal des Verwalters, seiner Frau und des Mädels informieren, die ich ja hatte zurücklassen müssen und die eventuell durch die Eindringlinge verwundet sein konnten. Als wir ankamen, war erst von einem Brand noch nichts zu sehen. Wir dachten, dass der Flammenschein von der in derselben Richtung liegenden Synagoge kommen müsse. Währenddem fuhr jedoch die Feuerwehr vor. Gleichzeitig begannen die Flammen herauszuschlagen. Der Brand war derartig sachverständig angelegt, dass die Decken in diesem Augenblick schon ungefähr durchgebrannt waren. Das ganze Gebäude brannte lichterloh, trotzdem bei der modernen Bauweise an sich wenig brennbares Material vorhanden war. Auch die Tatsache, dass die Flammen besonders heftig aus einer dort untergebrachten Bücherei, in der ca. 12000 Bücher ganz eng aufeinandergestapelt waren, herausschlugen, deutet auf flüssige Brennmittel, da Bücher sonst nicht, und vor allem nicht so schnell, in Brand geraten. Der Krankenschwester wurde auf äußerst rohe Weise jeder Zugang zum Gebäude und Auskunft über das Schicksal der Bewohner verweigert. Es waren auch jetzt noch nur äußerst wenig Zuschauer auf der Straße. Die Zerstörungsarbeit selbst wurde durch allerhöchstens sechs bis sieben SS-Leute ausgeführt. Ich habe dann an der Stelle angerufen, zu der wir am Abend vorher das Kind meines Freundes gebracht hatten, und feststellen können, dass alle das Haus haben gesund verlassen können. Es ist in diesem Zusammenhang überhaupt zu sagen, dass an meinem Wohnort keine direkten Verwundungen oder Morde vorgekommen sind. Das scheint so befohlen gewesen zu sein. Wohl sind Verhaftete, aber nicht gleich bei der Verhaftung, schwer misshandelt worden. Es dürfte auch im Allgemeinen nichts gestohlen worden sein. An anderen Orten hat es bei der Aktion sowohl viele Verwundete wie auch schwere Diebstähle gegeben.

Ich stand dann den ganzen Vormittag mit Rabbiner, Gemeindevorstand und CV in engster Verbindung. Wir haben versucht festzustellen, was und wo es sich alles ereignet hatte und ereignete, und den Menschen so weit als irgend möglich zu helfen. Man war noch immer damit beschäftigt, Wohnungen und Geschäfte zu zerstören. Dabei wurden teilweise mit Brechstangen, Vorhämmern und Pickeln die Fenster mit Rahmen herausgebrochen und die Mäbel, Maschinen und sonstige Einrichtung auf die Straße geworfen. In den späteren Morgenstunden gab es natürlich viele Zuschauer. Die halbe Stadt war auf den Beinen. Es wurden auch viele Arier verhaftet, die wagten, ihrem Abscheu über das Treiben Ausdruck zu geben.

Gegen 12 Uhr musste ich feststellen, dass die Verhaftungen die morgens um 1/2 7 Uhr begonnen hatten, ganz allgemein wurden. Sie wurden durch uniformierte, blaue Polizei vorgenommen. Da jede weitere Arbeit dadurch sinnlos wurde bin ich dann über Vorortstationen und Vorortlinien weggefahren. Inzwischen war die Gestapo bereits dreimal bei mir gewesen. Ich fuhr dann quer durch Deutschland nach Hamburg. Dort sind nur einige große Geschäfte zerstört worden (vier bis sechs?). Im Übrigen hatte man sich darauf beschränkt, groß mit roter Farbe „Jude” auf die Scheiben zu schreiben. Zu den Zerstörungsarbeiten hatte man zu einem großen Teil Schüler einer Berufsschule alarmiert, denen man am Tag vorher gesagt hatte, wann und wo sie sich versammeln müssten, und die dann mit Brechstangen ausgerüstet wurden. Sie sind in der Nacht unter anderem geschlossen in der Nähe der Hochbahnstation Schlump vorbeigekommen. Im eigentlichen Judenviertel, an der Grindelallee, war alles verhältnismäßig ruhig. Die Geschäfte waren geschlossen, fast alles war verhaftet. Das Israelitische Krankenhaus war noch intakt. Es war mit Nervenfällen überbelegt. Über Verletzte habe ich nichts gehört. Einige Ärzte waren verhaftet. Die Synagogen waren zerstört, aber anscheinend nicht abgebrannt. Von einem zuverlässigen arischen Bekannten hörte ich, dass ihm ein älterer Polizist aus Eimsbüttel (Hamburger Stadtteil) erzählt hatte, sie hätten für die Nacht von Mittwoch auf Donnerstag Befehl erhalten, das Revier nicht zu verlassen.

In Münster waren sämtliche Geschäfte zerstört worden, Während man in die Privatwohnungen nur teilweise gegangen war. Dabei ist allerdings auch einige Male durch die Fenster in die Wohnungen geschossen worden. Verletzt wurde direkt anscheinend niemand. Sogar Polizeibeamte hatten hier ihrem entsetzen über die Art, in der man vorgegangen war, offen Ausdruck gegeben. Die Synagoge in Münster ist verbrannt und anscheinend auch gesprengt.

Besonders schlimm muss es im Münsterland in den kleinen Orten an der holländischen Grenze zugegangen sein. In Drentsteinfurt liegt die gesamte jüdische Bevölkerung im Krankenhaus. Ähnlich muss es in Burgsteinfurt, Gronau usw. aussehen. Als ich in Münster von der Bahn kam, hörte ich zufällig, wie ein Mädel auf der Straße ganz entsetzt seinem Soldaten erzählte, wie man in einem Ort einem jüdischen Ehepaar, das man durch die Straßen trieb, mitgespielt habe.

In Mönchengladbach und Aachen scheint es insofern einigermaßen glimpflich abgelaufen zu sein, als außer den Geschäften nur einige wenige Wohnungen demoliert wurden. selbstverständlich ist auch hier fast alles verhaftet.

Ich versuchte zunächst bei Aachen über die Grenze zu kommen, was mir jedoch nicht gelang. Ich fuhr dann zurück und konnte weiter nördlich auf holländischen Boden kommen. Unterwegs habe ich durch viele Menschen, Juden wie Christen, mit denen ich zusammenkam, weitestgehende Hilfe gefunden.

Durch sehr zuverlässige christliche Augenzeugen habe ich inzwischen noch gehört, dass meine Privatwohnung, die am Vormittag bereits zerstört worden war, am Donnerstagmittag um 3 Uhr in Brand gesteckt wurde. Es wurde auch in der Nacht vom Donnerstag auf Freitag noch demoliert. Die letzte Brandstiftung, von der ich weiß, ist am Freitagvormittag um 8 Uhr geschehen.

Die Feuerwehr hat sich in allen mir bekannten Fällen darauf beschränkt, ein eventuelles Übergreifen der Brände zu verhindern. Gelöscht wurde nicht.

Heinz Nassau

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